Corona-Angst und die Folgen
Ein Beitrag von Prof. Michael von Brück,
Rektor Domicilium Akademie
Angst geht um, überall. Auch Ängste, die diffus da waren, scheinen sich jetzt zu bündeln. Es kommt viel zusammen. Angst ist zunächst eine lebenserhaltende Funktion, die uns die Evolution mitgegeben hat. Sie rüttelt auf, macht wachsam. Doch die dann meist folgende Schock- und Denkstarre ist fatal. Es ist im Grunde die Angst vor dem Unbekannten, Nicht-Berechenbaren, die Angst, daß wir „es“ nicht „im Griff haben“. In der Tat: Leben ist verletzlich. Es ist immer umgeben und durchdrungen von Vergänglichkeit, von Sterben und Tod. Diese Einsicht ist nicht neu. Leben zu schützen, soweit es geht, weil wir selbst im Leben von Leben leben, das sollte selbstverständlich sein. Denn diese Einsicht gründet im Faktischen. Und: Leben ist nur in Gemeinschaft möglich. Egoismus ist immer zerstörerisch, in der Krise ist er fatal.
Das Domicilium und die Hospiz-Gemeinschaft sowie die Palliativ-Spirituelle Akademie in Weyarn arbeiten seit Jahren daran, Qualität des Lebens und ein Sterben in Frieden miteinander zu verbinden. Gerade die Erfahrung von Vergänglichkeit lehrt, daß sich das Leben jetzt ereignet. Wir leben dann gut, wenn wir in Dankbarkeit das Leben in der Konzentration auf den Augenblick annehmen können. Das allerdings hält nicht nur Friede und Freude für uns bereit, sondern auch Auseinandersetzung und Schmerz. In der Welt, in unseren engen Beziehungen zueinander, in uns selbst. Am Schmerz können wir reifen, wenn wir nicht nur intellektuell begreifen, sondern mit allen Emotionen erleben können, daß wir eingebettet sind in den unermeßlichen Strom des Lebens. Angefangen vom Urknall des Universums (wenn es ihn denn gab) über die Entstehung der Erde, die Evolution des Lebens bis zu unserer persönlichen Biografie – alles ist in Bewegung, alles ist vergänglich.
Viele sind besorgt: Wie soll es nun weitergehen? Mancher sieht im Virus etwas Böses, das über die Menschheit gekommen ist wie eine Strafe, andere etwas Gutes, für das wir dankbar sein sollen, weil es uns lehrt innezuhalten, weil es das Hamsterrad der tödlichen Lebensbeschleunigung in unseren ökonomisierten Gesellschaften (fast) zum Stillstand bringt?
Weder noch, ein Virus ist ein Virus. Viren und Bakterien haben ihre wichtige Funktion in allen Lebensprozessen, auch wenn wir vieles davon (noch) nicht verstehen. Es verbietet sich, das Virus mit „spiritueller Bedeutung“ aufladen zu wollen. Denen, die im Garten in Quarantäne eine Auszeit genießen, die privilegiert sind, mag das vielleicht so vorkommen. Und jeder soll und darf seine eigenen Schlußfolgerungen für sich ziehen. Aber was ist mit den Kranken in den Intensivstationen, die Erstickungsqualen erleiden, was mit denen im Nahen Osten und in Afrika und in Indien, die nur mangelhafte medizinische Versorgung haben, was mit den Flüchtlingen, die zwischen den Schlagbäumen der Staaten vor sich hin frieren und hungern, deren Blick in die Zukunft jetzt noch verzweifelter erscheint? Aber auch diejenigen, deren wirtschaftliche Existenz jetzt zusammenzubrechen droht?
Nein, ganz Deutschland ist nicht in einen Meditationskurs geschickt worden, denn das würde Freiwilligkeit und Einsicht voraussetzen. Aber wir können in diesen Zeiten Wesentliches lernen: Wir haben uns mit unserer Lebensweise gegen die Natur gestellt, in vielen Bereich gar gegen das Leben. Das können, müssen und wollen wir ändern. Und diese Änderung ist nicht ein qualvolles Verzichten, sondern Entdeckung, die Freude macht. Auch wenn es schwierig ist und Zeit braucht. Aber das ist bei allen kreativen Leistungen immer so gewesen. Man denke nur, und nicht nur in diesem Jahr, an Beethoven: Die „Freude, schöner Götterfunken“ ist erarbeitet, durchlebt und – gerade bei ihm – durchlitten, jedenfalls bewußt gestaltet.
Beides sehen wir in diesen Tagen: Individuellen Egoismus (Hamstern) und Staatsegoismus (politische Profilierung von Autokraten auf Kosten der Demokratie und unnötige Abgrenzungen). Wir sehen aber auch Solidarität (Nachbarschaftshilfe, Wissenschaft ohne Grenzen, Aufnahme von französischen Kranken in deutsche Intensivstationen, Kooperation politischer Konkurrenten, zumindest bei uns). Und engagiertes Pflegepersonal, Ärztinnen und Ärzte, die Großes leisten. Die Gesellschaft schuldet ihnen Dank, und das begreifen jetzt hoffentlich auch die Verantwortlichen: Diejenigen, die Kranke und Sterbende pflegen, verdienen viel mehr Wertschätzung, die sich in Zukunft auch finanziell zeigen muß.
Menschen finden zueinander, auch wenn sie körperlich (hoffentlich) den vernünftigen Abstand einhalten. Vernunft statt Angst. Entscheidungen sind zu treffen, aber mit Gründen und Argumenten und dem Willen zu aktiver Gestaltung in der Krise. Nicht mit Angst und Aktionismus. Die Analysen der Lage und ebenso die jetzt realisierten Handlungsstrategien sind wohl nicht alternativlos. Wer jedoch andere Argumente einbringt als die dominierenden, wird angegriffen. Was wir in den „sozialen Netzwerken“ dazu erleben, ist (neben Sorge und Hilflosigkeit) auch Ausgrenzung und Haß. Angstgetrieben.
Die Datenlage ist nicht eindeutig, und Interpretationen derselben variieren. Wir wissen noch immer zu wenig. Wer totalitär seine eigene Meinung als die einzig mögliche Deutung der Fakten ausgibt, verletzt nicht nur die Meinungsfreiheit als Grundrecht der Würde des Menschen, sondern auch gute Wissenschaft. Jede Behauptung kann nicht nur durch mehr Daten, sondern durch weitere Gesichtspunkte ergänzt, verbessert und falsifiziert werden. Geboten ist der respektvolle Umgang miteinander, auch mit anderen Meinungen. Daran mangelt es, und das ist gefährlich. Kurzatmigkeit ist ein Krankheits-Symptom. Nicht nur medizinisch, sondern auch sozial. Und spirituell.
Dass wir alle auf einige Annehmlichkeiten verzichten müssen, ist nicht das Problem. Wir dürfen und müssen besonders gefährdete Menschen schützen. Selbstverständlich. Aber sind die vielen „Maßnahmen“ wirklich der einzige und beste Weg? Auf Monate (und wie es schon heißt: auf Jahre!) die Gesellschaft, ihre sozialen und ökonomischen Grundlagen lahmlegen? Freiheit suspendieren? Die unterschiedlichen Strategien müssen öffentlich, transparent und mit Gründen und Argumenten debattiert werden. Nur dann wird ein sozialer Aufbruch zu verantwortlichem Handeln gelingen, der nicht von Angst, sondern von Gestaltungsbereitschaft und Kreativität geprägt ist. Und der vor allem die Zukunft der jungen Menschen nicht aus dem Auge verliert.
Das Tempo des wirtschaftlichen und sozialen Lebens zurückzufahren, kann sehr heilsam sein.
Denn durch Verzicht können wir auch lernen. Er braucht Maß und Akzeptanz, die auf Einsicht beruht. Sonst rutschen wir in eine Gesundheitsdiktatur oder in eine Ökodiktatur. Und das kann niemand wollen.
Es gibt Erkenntnisse und Erfahrungen, die uns jetzt bei der Bewältigung der Krise von Nutzen sein könnten, davon ist in dem Buch „Wagnis und Verzicht“ die Rede. Daß wir uns einschränken kann ein Gewinn an Lebens-Intensität sein, der Kreatives freisetzt: neue Formen des Wirtschaftens und der Verteilung der Güter, neue Formen der Kommunikation. Im Buch mit dem genannten Titel heißt es (S.11):
„Wagnis hat mit Mut zu tun, kann aber auch in Übermut umschlagen. Im Wagnis steckt Grenzüberschreitung, auch Risiko. Wagnis ist immer auch Abenteuer, es bedeutet meistens, gegen den Strom zu schwimmen und alte Gewohnheiten abzustreifen. Ein Wagnis ist es Vertrauen zu haben, ohne das wir nicht leben können, das aber oft genug enttäuscht wird. Wagnis ist Aufbruch zu neuen Ufern. Wagnis riskiert das Scheitern. Verzicht kann eine kluge Selbstbeschränkung sein, manifestiert sich aber gelegentlich auch als Verzagtheit oder Resignation. Verzicht kann aus Einsicht in die Notwendigkeit folgen, bedeutet aber manchmal auch das mutlose Aufgeben eines brennenden Wunsches oder eines lang erstrebten Zieles. Verzicht kann Vermeidung sein oder eine Beschränkung, die sich der Herausforderung nicht zu stellen vermag. Verzicht kann jedoch auch einen Gewinn an Lebensqualität bedeuten, wenn dadurch intensivere Konzentration möglich wird.“
Das betrifft auch die Probleme, mit denen wir noch zu tun haben werden, wenn die Pandemie vorbei ist, die ökologischen und sozialen: die Art unserer Lebensweise (Wirtschaft, Politik, soziales Verhalten usw.), die Leben zerstört. Ich zitiere aus meinem „Interkulturellen Ökologischen Manifest“, das mit dem, was angesichts von „Corona“ weltweit passiert, wohl doch einiges zu tun haben könnte:
„Es wird eine unabdingbare Aufgabe der Menschheit werden, bei Niedergang des ressourcenabhängigen materiellen Wohlstands ein Äquivalent durch immateriellen Wohlstand bzw. spirituellen Reichtum zu schaffen. Wertschöpfung bedarf der Ergänzung durch Schöpfungswert. Ein Prozess, der mit integralem Bewusstsein gestaltet werden will. Das bedeutet, dass der ökonomistische Egoismus überwunden wird durch kooperative Lebensformen des Aufeinander-Bezogenseins.
Im Folgenden wird wiederholt für die Ablösung des quantitativen Wachstums durch qualitatives Wachstum plädiert. Unter qualitativem Wachstum wird objektiv eine Recyclingwirtschaft verstanden, die den minimalen Ressourcenverbrauch als Kriterium des Erfolgs bestimmt, subjektiv geht es um den Gewinn von Erlebnisqualität des Menschen durch Intensivierung sinnlicher Aufmerksamkeit in jeder Hinsicht, was wiederum spezifische Bewusstseinsbildung von Kognition und Emotion (Achtsamkeit) voraussetzt. Die Entwicklung transformierter Lebensformen, die eine kulturelle Erneuerung des Denkens und der Emotionsgestaltung voraussetzen, ist nicht als Bürde und Last zu inszenieren, sondern als schöpferische Freude und Gestaltungskraft, die menschliche Motivationen überhaupt erst erzeugt. Mut zum Wagnis der gemeinsamen Umgestaltung auf der Grundlage des rational Einsichtigen ist die Art und Weise, wie sich Menschsein individuell wie kollektiv bewusst gestaltet.“
In diesem Sinne und unter dem Gesichtspunkt, daß wir dafür Zeit und Geduld brauchen, bietet die jetzige Situation auch Chancen. Wir können daraus lernen. Aber gemeinsam, im wohlwollenden Austausch, mit Argumenten, ohne Haß auf diejenigen, die andere Meinungen vertreten. Und ganz besonders im Rückzug auf die inneren Kräfte des Mitgefühls, die wir vielleicht jetzt stärker entwickeln (können) als gewöhnlich. Das ermöglicht Überwindung von Angst. Auf dem Boden von Angstfreiheit kann vernünftiges Handeln eher gedeihen als auf dem Boden der Angst und des Getriebenseins.