Achtsames Leben - Zufluchtsorte

Zufluchtsorte

Sehnen wir uns im Alltag nicht oft nach Orten der Zuflucht, an denen wir loslassen und auftanken können? Und projizieren wir diese Sehnsucht nicht typischerweise auf den Urlaub? Müssen wir also warten, bis wir wieder Urlaub haben?

In der buddhistischen Tradition wird die spirituelle Praxis als „Zuflucht“ bezeichnet. Tatsächlich kann zum Beispiel eine regelmäßige Meditationspraxis zu einem Zufluchtsort im Getriebe des Alltags werden, an dem wir uns immer wieder niederlassen und für einen Augenblick zur Ruhe kommen und auftanken können. Wie ein Schiff immer wieder einen Hafen anfahren muss, um dort zur Ruhe zu kommen und für die nächste Fahrt aufzutanken, so benötigt auch jeder Mensch kontemplative Orte, an denen er zu sich kommen kann. Nur in der Ruhe können wir verdauen, können wir loslassen und auftanken. Und nur in stillen Momenten - ohne jeglichen Input – können wir uns auf das Wesentliche unseres Lebens besinnen: auf die lebendige Gegenwart und das unbedingte SEIN, das allem Leben zugrunde liegt. Wie bedeutsam sind doch Zufluchtsorte und Oasen der Ruhe für unsere innere Balance?

 

Was macht eine gute Praxis aus?

Zweifellos ist es in einer modernen Welt, die sich immer schneller dreht und in der die Informationsflut stetig zunimmt, geradezu elementar notwendig, Räume zu pflegen, in denen wir ganz bewusst aus allen äußeren Einflüssen und Anforderungen aussteigen. Wie sollen wir sonst der zunehmenden Komplexität standhalten, wenn wir nicht Momente der Einfachheit pflegen? Wie wollen wir mit der Schnelligkeit des modernen Lebens Schritt halten, wenn wir nicht immer wieder für Momente aus der Zeit aussteigen?

Doch was macht eine „gute“ spirituelle Praxis aus? Diese Frage wird mir immer wieder gestellt. Sollen wir uns täglich 20 Minuten aufs Kissen setzen? Und das immer zur selben Zeit? Wie oft höre ich von Menschen, dass sie eine solche Praxis nicht mit ihrem Alltag in Einklang bringen oder diese anstrengend finden und wieder sein lassen. Wenn wir also eine Praxis als Zufluchtsort in unserem Alltag etablieren wollen, ist das Wichtigste, dass wir eine stimmige Form entdecken, die wir wirklich gerne machen und welche uns nicht anstrengt, sondern nährt. Denn nur dann werden wir sie auch dauerhaft in unseren Alltag integrieren können. Wenn wir dagegen das Gefühl haben, unsere spirituelle Praxis ist ein weiterer Ort, der Ansprüche an uns stellt und wir uns entsprechend dafür anstrengen müssen, werden wir dankend darauf verzichten.

 

Was wir nicht alles sollen

Doch wie schnell geschieht es, dass wir die Ansprüche, die uns sonst im Leben begleiten, unbewusst auch auf die Praxis übertragen: „Wir sollen meditieren, und das täglich. Wir sollen dabei ganz achtsam in der Gegenwart sein. Wir sollen aus dem Denken aussteigen und tiefer in die Gegenwart eintauchen. Wir sollen möglichst gerade sitzen und wach sein. Wir sollen…“ Wer hat da noch Lust auf Meditation?

Folglich ist es wichtig, dass wir entdecken, wie wir uns immer wieder für die Praxis anstrengen und welche Ansprüche sich darin verbergen. Denn diese Anforderungen und Vorstellungen verleiden uns nicht nur die Meditation, sondern treiben uns auch sonst in unserem Leben an. Je klarer wir diese verinnerlichten Antreiber sehen, desto leichter wird es sein, sie immer wieder für einen Augenblick zur Seite zu legen und die Freiheit zu spüren, die sich dann ausbreitet.

 

Meditation ist Freiheit

Meditation ist zuallererst ein Ort der Bedingungslosigkeit und der Freiheit. Die Gegenwart will nichts von uns. Sie ist einfach da – ob wir uns gerade anstrengen oder nicht. Das Leben fließt uns zu und die Lebendigkeit des Atems und der Körperempfindungen nähren uns unaufhörlich. Es gibt nichts zu tun dafür. Es genügt, da zu sein und uns nähren zu lassen. Ist das nicht geradezu unglaublich? Nichts tun müssen, nicht etwas Bestimmtes darstellen müssen, keinerlei Ansprüche? Einfach sein dürfen – so wie wir gerade sind?

 

Kleine Erinnerung

Hör auf dich anzustrengen

Die Stille ist kein roher Stein
Den du wie ein Bildhauer
Mit dem Meißel der Achtsamkeit bearbeiten musst

Sie ist kein Tonklumpen
Aus dem du wie ein Töpfer
Etwas formen kannst

Leg deine Werkzeuge zur Seite
Und entspann dich
Lass die Stille an dir arbeiten
Das ist genug

Richard Stiegler       

 

Praxis als innerer Spiegel

So ist es auch nicht entscheidend, wie genau unsere Alltagspraxis aussieht. Ob wir traditionell 20 Minuten auf dem Kissen sitzen oder eine gewisse Zeit auf dem Sofa liegen und dabei lauschend anwesend sind, ob wir täglich eine Yogapraxis machen oder lieber regelmäßig achtsam spazieren gehen, entscheidend für eine stimmige Alltagspraxis ist nicht das was, sondern das wie. Wichtig ist nämlich, dass es eine Form ist, die bedingungslos ist und in der wir uns von neuen Inputs fernhalten. Nur dann kann eine Praxis zu einem Raum des Innehaltens werden, in dem wir spüren, wie gerade unsere aktuelle seelische Verfassung ist. Die wichtigste Funktion der Alltagspraxis ist nämlich nicht die Tiefe der Erfahrungen, sondern dass sie uns hilft, im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder zu uns zu kommen. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass wir immer das Gleiche tun - also uns in eine bestimmte Form, die uns entspricht, hineingeben. Dann erst wird die Form zu einem inneren Spiegel, in welchem wir uns erkennen können.

Welche Praxisform wir auch immer für uns entdecken, wir könnten zu Beginn ein paar zentrale Sätze kontemplieren: „Dasein genügt.“ Oder: „Das, was ist, ist.“ Oder: „Jeder Augenblick - ein Heimkommen.“ Diese oder ähnliche Sätze können uns helfen, uns innerlich auf die Haltung der Bedingungslosigkeit einzustimmen und zu spüren, dass wir nichts dafür tun müssen, damit Stille entsteht, sondern im Gegenteil, dass wir in der Stille immer bedingungslos angenommen sind. Was könnte nährender sein?

 

ÜBUNG: Die Alltagspraxis

  • Reflektiere darüber, welche Vorstellungen, welche Bilder und Ansprüche du mit einer regelmäßigen Praxis verbindest. Wie soll diese aussehen und wie sollst du dabei sein?
  • Untersuche dann die innere Wirkung dieser Vorstellungen:

    Wie reagiert dein Körper spontan darauf? Wie reagiert deine Seele? Kommt es zu einer subtilen Kontraktion oder Anstrengung? Kann dein Inneres bei diesen Vorstellungen entspannen und sich frei fühlen?
  • Frage dich jetzt: Wie könnte ein Ort oder eine Praxis der Bedingungslosigkeit und Freiheit aussehen? Eine Form, in der du dich zutiefst wohl und angenommen fühlst, und welche dich nährt? Lass dich überraschen, was auftaucht!
  • Was ist das Wesentliche, das dir diese Praxisform vermittelt? Welche Art von Botschaft oder Erlaubnis taucht hier auf?
  • Sprich diese Botschaft oder diese Erlaubnis in dich hinein und lass sie innerlich klingen. Spür, was sich spontan mit diesen Worten ausbreitet. Lass dazu einen ganzkörperlichen Gestaltausdruck und ein inneres Bild auftauchen. Lass dir Zeit, zu verkosten, welche innere Qualität sich hier ausbreitet.
  • Spür zum Schluss, wie du in den Alltag gehst und wie du dann lebst, wenn du innerlich mit dieser seelischen Qualität in Kontakt bist.