Achtsames Leben - Wenn die Schatten länger werden...

Es ist Herbst. Die Tage werden kürzer und die Schatten umso länger. Sind Schattenbilder nicht ein faszinierendes Phänomen? Je heller das Licht, umso dunkler der Schatten. Wir können ihn nicht abschütteln. Es sei denn, wir gehen aus dem Licht und ergeben uns der Dunkelheit.

Tatsächlich ist der Schattenbereich der Seele ähnlich strukturiert. Er bildet sich erst dort, wo wir uns innerlich dem Licht zuwenden, also starke Ideale haben, die wir anstreben. Je stärker wir versuchen, dem Erwünschten zu entsprechen, desto größer wird der Bereich in uns, den wir ablehnen und entsprechend in das Dunkle – das Schattenreich – verbannen. Mit anderen Worten: Der seelische Schatten betrifft die ungeliebten Anteile in uns, welche wir dann vor uns und vor anderen zu verstecken suchen.

 

Wie wir versuchen, Ungeliebtes in Schach zu halten

Doch selbst wenn es uns gelingen sollte, immer Richtung Licht zu streben und ungeliebte Anteile aus dem Bewusstsein zu verdrängen, können wir diese nicht wirklich abschütteln. Schattenanteile bleiben immer ein unterschwelliger Bereich in unserer Psyche und es kostet uns viel Lebensenergie, diesen in Schach zu halten. Wieviel Energie könnten wir uns sparen, wenn wir uns diesen Anteilen zuwenden und das lebendige Potential, das darin liegt, integrieren würden?

Wenn wir zum Beispiel Stärke und Leistungsfähigkeit idealisieren, wie es besonders in unserer Kultur gerne getan wird, dann werden Momente von Schwäche und Erschöpfung als unerwünscht und unnütz entwertet. Folglich werden wir diese Momente ausblenden und übergehen. Wir erlauben uns nicht, in diesen Momenten von allen Aktivitäten loszulassen und uns zu erholen. Wenn sich dieses Verhalten zu einem Lebensmuster verdichtet, kommt es unweigerlich irgendwann zum Zusammenbruch und zu einem Burn-Out. Dann zeigt sich der Schatten mit seiner ganzen, destruktiven Macht.

 

Wenn wir den Schatten projizieren

Doch es gibt noch eine weitere Wirkung des Schattens, die uns viel häufiger zu schaffen macht, als uns bewusst ist. Wenn uns zum Beispiel unsere Aggression Angst macht und wir daher nicht wagen, klar für uns einzutreten, können wir dieses Potential vielleicht lange Zeit in uns unterdrücken und jeden Konflikt vermeiden, aber wir können nicht verhindern, dass wir immer wieder auf andere Menschen stoßen, die aggressiv für ihren Standpunkt eintreten. Mit anderen Worten: Was immer wir in uns als bedrohlich oder falsch empfinden und entsprechend ablehnen, es kommt uns unweigerlich von außen entgegen.

Natürlich haben wir in einem solchen Fall das Gefühl, dass der Grund für unsere Bedrohung im Gegenüber liegt und nicht in uns. Wir projizieren unsere Schwierigkeit mit dem inneren Schattenanteil auf das Gegenüber und bewerten und bekämpfen ihn dort. Kein Wunder, dass dies unsere Beziehungen stark belastet und zu großen Konflikten führt.

 

Schattenarbeit ist Friedensarbeit

Aus diesem Grund ist Schattenarbeit eigentlich Friedensarbeit. Wir können durch nichts so sehr unsere Beziehungen entlasten wie durch die Bereitschaft, Verantwortung für unsere Projektionen zu übernehmen – sprich, sich dem inneren Anteil zu stellen, welchen wir im Gegenüber ablehnen. Freilich können wir dann nicht mehr das beliebte Spiel weiterspielen, andere für unsere unangenehmen Gefühle verantwortlich zu machen. Wir können dann nicht mehr über Politiker*innen, nicht mehr über die Nachbarin und auch nicht mehr über den Partner schimpfen. Wie herrlich einfach ist es doch, sich über andere aufzuregen?

Doch andererseits: Wie befreiend ist es, wenn wir erkennen, dass alles, was uns an anderen ärgert, ein Teil von uns selbst ist und wir diesen erlösen können? Die anderen können wir nämlich meist nicht ändern. Solange wir das versuchen, bleiben wir in der Opferrolle gefangen. Doch wenn wir die betroffenen Schattenanteile in uns befreien, werden wir feststellen, dass wir innerlich vollständiger werden und sich unsere Beziehung zu Menschen, die für uns zuvor schwierig waren oder uns bedroht haben, komplett entspannt.

 

 

Der archimedische Punkt, von dem aus ich an meinem Orte die Welt bewegen kann, ist die Wandlung meiner selbst.

Martin Buber

 

 

Schattenanteile erlösen

Wenn wir jetzt erkannt haben, dass das, was wir im anderen ablehnen, in uns ist, dann stellt sich die entscheidende Frage, wie wir diesen Anteil in uns erlösen können? Dazu müssen wir wissen, dass uns das, was wir ablehnen, zunächst immer erst negativ oder destruktiv erscheint – also als Feind. Wir sehen nie das lebendige Potential darin. Wenn wir zum Beispiel die Erschöpfung ablehnen, scheint sie etwas zu sein, das uns Kraft raubt und entsprechend überwunden werden muss. Und wenn wir unsere Aggression ablehnen, kommt sie uns zunächst als gefährlich vor. Erst wenn wir diese Anteile unvoreingenommen und annehmend erkunden, können wir das Potential darin entdecken und befreien. Dann spüren wir plötzlich, welche Entspannung und Erholung entsteht, wenn wir die Erschöpfung vertrauensvoll zulassen. Oder wie klar wir für uns eintreten können, sobald wir die Aggression als positive Kraft zu uns nehmen.

Freilich ist das manchmal nicht ganz einfach, Schattenanteile, von denen wir zunächst überzeugt sind, dass sie falsch oder destruktiv seien, nochmal ganz neu – mit unvoreingenommen und neugierigen Augen – zu erkunden. Aber es lohnt sich! Denn wenn wir das natürliche Potential im inneren Dämon erkennen, verwandelt sich der innere Feind zu einem mächtigen Verbündeten.

 

Jeder Schatten ist im Letzten doch ein Kind des Lichts. Stefan Zweig
ÜBUNG: Einen Schattenaspekt befreien

  • Lass etwas auftauchen, das du in anderen Menschen ablehnst. Mach dir bewusst, was es ist, das für dich schwierig oder Ablehnens wert ist.

  • Mit welchen Urteilen und Gefühlen kommst du in Kontakt, wenn du damit konfrontiert bist? Erlaub sie dir! (Auch wenn sie nur ein Ausdruck deiner Projektion sind.)

  • Dann streck dich ganz bewusst und atme tief durch. Streif ganz bewusst alle Urteile ab und begib dich innerlich in eine totale Unvoreingenommenheit, mit der du nochmal ganz neu die Dinge betrachten kannst. Fühle innerlich, wie sich eine solche vertrauensvolle Unvoreingenommenheit anfühlt und beschreibe dein Erleben dabei.

  • Frage dich jetzt nochmal: Was ist es genau, das du in der Person ablehnst? (Meistens ist es nur ein ganz bestimmter Aspekt: z.B. ihr Ausdruck oder ihr Verhalten)

  • Wechsle bewusst die Perspektive und stell dir so konkret wie möglich vor, dass du das bist, was du im anderen ablehnst. Gib dich ganz vertrauensvoll in diesen Aspekt hinein und lass dich überraschen, was sich öffnet, wenn du ganz unvoreingenommen und neugierig diesen Aspekt erkundest. Wie fühlt sich das an, so zu sein? Wie erfährst du es im Körper und welche Gebärde taucht dazu auf? Gibt es ein inneres Bild zu diesem Erleben? Welche Energie oder Art von Lebendigkeit lebt hier? Welches Potential liegt hier verborgen?

  • Wenn dir dieser Aspekt als Verbündeter zur Verfügung steht, wie kannst du dann innerlich sein? Und wie kann dich dieser Verbündete in Beziehungssituationen unterstützen?