Achtsames Leben - Von der medialen Flut

„Früher war es ein Aufwand, sich über wichtige Ereignisse zu informieren. Heute dagegen besteht der Aufwand darin, sich von allzu vielen Nachrichten und Informationen fernzuhalten.“ Diesen Satz hat ein guter Freund vor vielen Jahren zu mir gesagt. Wie Recht er doch schon damals hatte. Seither dreht sich das mediale und das digitale Rad von Jahr zu Jahr schneller und die Informationsflut steigt stetig an.

Wie leicht können wir da in dieser medialen Flut, die Tag für Tag über Radio, Fernsehen, Internet und Social-Media-Kanäle auf uns einströmt, untergehen und dabei unbemerkt in einen Dauerstress geraten, der uns letztlich erschöpft und seelisch verloren zurücklässt. Seit Jahren wachsen bei vielen Menschen die Symptome von innerer Überforderung an, woraus letztlich sowohl psychische als auch körperliche Leiden erwachsen können.

 

Medien als Errungenschaft und als Herausforderung

Moderne Medien sind eine enorme Errungenschaft, mit deren Hilfe sich unsere Welt um ein Vielfaches ausgeweitet hat. Sowohl unsere Möglichkeiten nehmen zu (Wer konnte sich noch vor kurzem vorstellen, Seminare online zu besuchen?), als auch unser Horizont und unser Verständnis für andere Lebensformen, Kulturen und für globale Zusammenhänge haben sich deutlich erweitert. Ist es nicht ein echter Schatz, dass wir heute zu jedem Thema ausführliche Beiträge im Internet finden? Oder dass wir über Ländergrenzen hinweg kommunizieren können?

Gleichzeitig werden wir aber von Informationen und Nachrichten geradezu überflutet, die weit über unseren natürlichen Wirkungskreis hinausgehen. So erfahren wir von vielen Themen, Nachrichten, Ereignissen und Entwicklungen, die mit unserer kleinen Welt, in der wir leben, oft gar nichts zu tun haben. Wie sollen wir all das verarbeiten, was da auf uns einströmt? Und ist es ein Wunder, wenn Menschen sich immer ohnmächtiger fühlen und entsprechende Ängste entwickeln, wenn sie ständig von Ereignissen hören, die außerhalb ihres Lebensumfeldes liegen und damit außerhalb ihres Wirkungskreises?

 

Alles muss verdaut werden

Was wir oft vergessen, ist, dass alles, was wir erfahren, innerlich verdaut werden muss. Das gilt für Ereignisse in unserem Umfeld – wie zum Beispiel ein Beziehungskonflikt, der uns persönlich betrifft – genauso wie für jedes mediale Ereignis, das auf uns einströmt und uns berührt oder erschüttert. Unser Gehirn unterscheidet nicht zwischen realer und medialer Erfahrung. Auch macht es keinen Unterschied, ob uns ein Ereignis persönlich betrifft oder außerhalb unseres Umfeldes stattfindet. Wenn uns ein Thema oder ein Ereignis freudig berührt oder betroffen zurücklässt, muss es verdaut werden.

Wenn ich in diesen Tagen zum Beispiel Bilder aus dem Erdbebengebiet in der Türkei und in Syrien sehe, brauche ich Zeit, um das Ereignis seelisch zu verarbeiten, obwohl es nichts mit meiner kleinen Welt zu tun hat. Alles, was wir aufnehmen, muss verdaut werden. Das gilt nicht nur für unseren Verdauungstrakt, sondern genauso für unser Gehirn und unsere Seele. Ist es da ein Wunder, dass sich viele Menschen von der Menge an Nachrichten, die auf sie einstürzen, überfordert fühlen?

Wenn wir daher ständig mediale Eindrücken aufnehmen, uns aber keine Räume des Verdauens lassen, dann sind wir wie ein geistiger Vielfraß und überlasten unser Gehirn. Überflutung mit Informationen, Eindrücken, Ereignissen, Spielen und Filmen führt zum Gefühl von Überforderung und das wiederum erzeugt seelischen Stress. Durch die ständige Anregung befindet sich nämlich das Nervensystem in einem erhöhten sympathikotonen Zustand. Das wiederum führt über einen längeren Zeitraum unweigerlich zu einer unterschwelligen Erschöpfung. Wie oft höre ich von Menschen, dass ihnen alles zu viel ist und dass sie sich erschöpft fühlen?

 

Das Nervensystem braucht Pausen

Diese mediale Überflutung hat noch einmal deutlich an Fahrt aufgenommen, seit jeder Mensch ein Smartphone in der Tasche hat und jede kleine Lücke im Alltag damit füllen kann, neue Infos aus der ganzen Welt zu bekommen und sich mit digitalen Welten zu beschäftigen. Dadurch verschwinden alle natürlichen kleinen Pausen der Verdauung, die es früher gab, wenn wir auf den Bus oder auf eine Verabredung gewartet haben. Kein Wunder also, dass wir unter einem Overload im Gehirn und damit unter einer zunehmenden Überforderung leiden.

Unser Nervensystem braucht Pausen, in denen keine Anregung geschieht, damit es wieder ganz in die Entspannung – in den Ruhemodus des Parasympathikus – absinken kann. Sonst ist es chronisch überlastet und wir werden schlichtweg krank. Wir sollten uns bewusst machen: Das Gehirn arbeitet sehr schnell und kann viele Informationen und Eindrücke in kurzer Zeit aufnehmen, aber unsere Seele arbeitet langsam. Wie lange brauchen wir manchmal, um ein Ereignis, das uns bewegt oder erschüttert hat, wirklich zu integrieren?

 

Wie wir zu uns kommen und auftanken

Wenn wir also auf eine gesunde Weise mit den medialen Möglichkeiten umgehen wollen, ist es ungeheuer wichtig, dass wir anerkennen, dass wir geistig und seelisch nicht nur aufnehmen können, sondern auch Verdauungsräume benötigen, in denen wir das verarbeiten können, was wir medial (und auch sonst) zu uns nehmen, und in denen das Gehirn und unsere Seele wieder in die Ruhe finden können.

Das bedeutet ganz konkret: Wenn wir eine Mittagspause haben und dabei eine Zeitschrift lesen, mit Kolleg*innen diskutieren oder mit dem Handy spielen, dann ist das für unser Gehirn und unser Nervensystem keine Pause und damit kein Raum der Verarbeitung und der Regeneration. Eine echte Pause entsteht nur dort, wo wir uns bewusst von allen neuen Reizen und Informationen fernhalten. Zum Beispiel könnten wir einen kleinen Spaziergang im Grünen (ohne Kopfhörer) machen. Oder wir legen uns aufs Ohr und begeben uns in eine Tiefenentspannung. Nur dort, wo wir aus allen neuen Reizen heraustreten und eine Insel der Ruhe und Entspannung entsteht, können wir wirklich verdauen und zu uns kommen. Nur dann tanken wir körperlich, geistig und seelisch auf.

Das war natürlich immer schon so, aber früher gab es natürliche Pausen. Heute hingegen, mit den immer zur Verfügung stehenden medialen und digitalen Möglichkeiten, müssen wir aktiv und bewusst für Pausen und Verdauungszeiten sorgen, um seelisch und körperlich gesund zu bleiben.

 

ÜBUNG: Achtsamkeit im Medienkonsum

  • Lass folgende Fragen in Ruhe auf dich einwirken. Wichtig ist, dass du dabei mit einer liebevollen, nicht-wertenden Haltung auf dich und dein Leben schaust. Achtsamkeit heißt nicht, sich zu verurteilen, sondern zu sehen, was ist! Fast jeder Mensch ringt heutzutage mit den Herausforderungen der digitalen Zeit und muss darin einen eigenen Weg der Bewusstheit finden.
  • Reflektiere darüber, wieviel Zeit du mit Medien (Zeitschriften, Radio, Fernsehen, Internet, Social-Media und Handy) verbringst.
  • Bei welchen Medien bist du besonders gefährdet, dich zu verlieren oder damit Pausen oder Zeiten der Ruhe zu füllen? Welche Wirkung hat es auf dich, wenn du Pausen mit Medienkonsum füllst?
  • Gibt es in deinem Alltag kleine und große Räume der Verarbeitung und der Ruhe, in denen du dich von allen neuen Reizen fernhältst und du wirklich entspannen kannst?
  • Welche Möglichkeiten kennst du, wenn dich (reale oder mediale) Ereignisse aufwühlen, um diese seelisch zu verdauen? Nutzt du diese Möglichkeiten?
  • Wie müsstest du deinen Alltag einrichten, dass solche Räume der Reizfreiheit (=Pausen) und des Verdauens ritualisiert entstehen?

 

ÜBUNG: Wie wir seelisch Ereignisse verarbeiten können

  • Lass ein Ereignis auftauchen, das dich gerade berührt oder erschüttert und mach es dir innerlich bewusst, was genau dich daran berührt oder erschüttert.
  • Dann lass das äußere Ereignis los und betrachte, was es in dir auslöst: Welche Empfindungen, Gefühle, Bilder tauchen dazu auf? Welche Gebärde entsteht für das innere Erleben? Gib dich jetzt in dieses innere Erleben hinein und erkunde, in welche innere Welt du hier kommst?
  • Was sind Hintergrunderfahrungen zu dieser Art von Erleben? Welche Situationen oder Personen aus deinem Leben tauchen hier auf?
  • Wonach sehnst du dich hier im Tiefsten?
  • Stell dir jetzt so konkret wie möglich vor, dass sich diese Sehnsucht erfüllt und erkunde, was sich dann in dir ausbreitet: Welche Empfindungen, Gefühle, Bilder tauchen dazu auf? Welche Gebärde entsteht für das innere Erleben?
  • Was ist die wichtigste innere Qualität, die auftaucht, wenn sich diese Sehnsucht erfüllt? Gib dich ganz hinein…
  • Wie schaust du jetzt auf das äußere auslösende Ereignis?