Achtsames Leben - Ostern geht uns alle an

Die Osterfeiertage stehen vor der Tür und sie gelten nicht umsonst als die höchsten Feiertage in den christlichen Kirchen. Unabhängig davon, ob man dem Christentum nahesteht oder nicht, hat die Liturgie dieser Tage eine Aussagekraft, die jeden Menschen zutiefst betrifft und uns wachrütteln will. In dieser dramatischen Geschichte von Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi offenbart sich der Kern jeglicher spirituellen Praxis. Es kommt nicht von ungefähr, dass diese Geschichte die Jahrhunderte überdauern konnte, denn sie hat nichts an ihrer universellen Bedeutung verloren.

Was hier mit einer großen Wucht erzählt wird, ist nichts Geringeres als die existentielle Herausforderung, die im Leben eines jeden einzelnen Menschen wirkt. Wir alle werden sinnbildlich immer wieder gekreuzigt. Wir alle sind zutiefst zerbrechlich, werden Schmerzen und Schicksalsschläge erfahren und letztlich sterben. Doch wir alle tragen auch das Ewige in uns, zu dem wir erwachen (christlich: auferstehen von den Toten) können.

 

Der Mensch Jesus

Wenn man den Leidensweg Jesu betrachtet, dann kommt uns der Mensch Jesus mit all seinen zutiefst menschlichen Reaktionen sehr nah. Da ist kein Gott oder Heiliger, der über den Dingen steht und abgeklärt diese existentielle Prüfung hinnimmt. Er ist auch kein Held, der tapfer die Situation meistert.

Nein, er zeigt sich mit allen Gefühlen, zu denen Menschen fähig sind und durchschreitet alle Seelenschmerzen, die Menschen durchmachen, wenn sie mit existentieller Ohnmacht konfrontiert werden. Er hat Angst (schwitzt Blut und Wasser), er hadert mit seinem Schicksal und möchte es abwenden („Möge dieser Kelch an mir vorübergehen.“), er fühlt sich alleingelassen („Mein Gott, warum hast du mich verlassen.“) und er fühlt Mangel („Mich dürstet“).

 

Wir sind zerbrechlich

Angst, Widerstand und Hader, Einsamkeit und Mangelgefühle sind typische universelle Stationen des Leidens an existentiellen Grenzen, die jede*r von uns schon durchlitten hat. Daher kann man sich so leicht mit der Figur Jesu identifizieren. Denn er zeigt sich genauso verletzlich und zerbrechlich wie wir alle sind, wenn wir mit existentiellen Herausforderungen – wie zum Beispiel einem Schicksalsschlag – konfrontiert werden. Und er macht das Gleiche durch wie wir in diesen schweren Stunden.

Darin steckt eine zentrale Botschaft: Es ist zutiefst menschlich, verletzlich und schwach zu sein. Wir müssen nicht darüberstehen. Wir dürfen uns überfordert fühlen und uns unsere schwierigen Gefühle gestatten. Denn es ist viel wahrhaftiger, uns unsere Schwäche und Zerbrechlichkeit einzugestehen, als den starken Helden oder die starke Heldin zu spielen.

 

Das Kreuz auf sich nehmen

Was geschieht mit uns, wenn wir uns eingestehen, dass wir verletzlich sind, und damit unsere menschliche Schwäche anerkennen? Auch das können wir aus der Passionsgeschichte lernen. Wenn wir uns wahrhaftig den schwierigen Gefühlen stellen und sie in uns zulassen, wächst uns eine neue Stärke zu, die uns die Kraft gibt, den Leidensweg auf uns zu nehmen und Schritt für Schritt zu durchschreiten. Was könnte eindrücklicher sein, als das Bild Jesu, wie er nach all seinen heftigen Emotionen und Anfechtungen sein Kreuz auf sich nimmt und es strauchelnd und stolpernd bis zu seiner Hinrichtungsstätte trägt.

Woher kommt die Kraft, Schicksalsschläge anzunehmen? Was trägt uns durch schwere und verzweifelte Stunden? Vielleicht sind wir viel tiefer ins Leben eingebettet (Christlich: in Gottes Hand) und vom SEIN durchdrungen und getragen als uns in normalen und glücklichen Zeiten bewusst ist? Und vielleicht öffnen uns gerade die Leidensmomente dafür, dass ein neues Bewusstsein geboren werden kann.

 

Wahrer Gott und wahrer Mensch

So zeigt sich in der Geschichte Jesu die spirituelle Erweckung eines Menschen. Im Durchschreiten einer existentiellen Ohnmacht und in der völligen Kapitulation seiner Selbst wird das Begrenzende des Menschseins abgestreift und es öffnet sich die Dimension des SEINS, die, jenseits vom Werden und Vergehen, in der Tiefe unserer Seele immer da ist.

Um diesen Urgrund allen Lebens zu realisieren, müssen wir aber über die Begrenztheit unseres Menschseins hinausgehen und alles, was uns normalerweise auszumachen scheint – das Ich –, (zeitweise) abstreifen und zurücklassen. Erst dann offenbart sich unsere Seinsnatur und erst dann spüren wir, dass wir immer beides sind: ein zutiefst zerbrechlicher Mensch und unbedingtes, grenzenloses und allesdurchdringendes SEIN. Oder wie es in der christlichen Lehre von Jesus heißt: wahrer Gott und wahrer Mensch.

 

ÜBUNG: Unsere Zerbrechlichkeit und der Ort des nackten SEINS

Folgende rituelle Übung wird alleine in der Natur durchgeführt. Es braucht dazu etwa 45 Minuten Zeit.
  • Gehe in die Natur und begib dich in eine kontemplative Haltung. Dann frage dich im Gehen immer wieder folgende Frage: „Worin zeigt sich meine menschliche Unvollkommenheit oder meine Zerbrechlichkeit?“
  • Lass immer wieder einen Aspekt auftauchen und suche dir dann ein Symbol dafür in der Natur aus (z.B. einen Ast oder einen Stein). Betrachte diesen Gegenstand in Ruhe und lege ihn dann rituell ab.
  • Mach mit dieser Frage weiter, bis nichts Neues mehr auftaucht und alles abgelegt ist. Dann suche einen Ort in der Natur auf, der dich innerlich anzieht, und lausche hier auf das nackte SEIN. Spüre dabei, was sich innerlich ausbreitet…
  • Dann geh den gleichen Weg zurück und nimm all diese zutiefst menschlichen Aspekte deines Menschseins wieder an dich. Lass dich überraschen, wie es sich anfühlt, diese Aspekte deines Lebens wieder zu dir zu nehmen.