Achtsames Leben - Digitale Kontakte?

Richard Stiegler - Aus dem Newsletter "Achtsames Leben" Ausgabe Nr. 5

Viele Menschen leiden derzeit darunter, dass ihre Kontakte drastisch eingeschränkt sind. So können sie sich nicht mehr unbeschwert mit Freund*innen treffen und sie herzlich umarmen. Das Erleben von Gemeinschaft, wie es durch kulturelle Veranstaltungen oder Yogagruppen möglich ist, ist gänzlich ausgesetzt. Und selbst im beruflichen Sektor sind die sozialen Kontakte oft auf digitale Konferenzen reduziert. Auch wenn in diesen Wochen digitale Kontakte und Medien eine neue Blüte erfahren und allerorts Veranstaltungen im Netz stattfinden, spüren wir doch, dass das zwar hilfreich ist, um durch diese Zeit zu kommen und Kontakte aufrechtzuerhalten, aber ein echter Ersatz für die unmittelbare Nähe mit anderen Menschen und für eine Umarmung ist das nicht. Wie kostbar ist es doch, unmittelbare Nähe zu spüren, jemanden zu umarmen und Gemeinschaft miteinander zu teilen?

Es kommt nicht auf die Menge an

Wie immer, wenn etwas nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung steht, wird uns erst bewusst, welche Bedeutung es für unser (Innen-)Leben hat. So auch hier. Neurologen haben nachgewiesen, dass die Motivationssysteme im Gehirn am stärksten anspringen, wenn die Aussicht auf Nähe mit anderen Menschen besteht. Es geht also nicht um die Menge an Kontakten, sondern um ihre Qualität. Fühle ich mich wirklich verstanden und angenommen? Hat das Gegenüber ein Interesse für das, was mich bewegt, und kann es sich meine Innenwelt einfühlen? Entsteht im Zusammensein eine fühlbare Nähe? Erst dann nämlich weiß sich unsere Seele aufgehoben und kann sich wohlig ausbreiten. Körperlich wird dabei das Ruhesystem (Parasympathikus) im Organismus aktiv und es werden Hormone ausgeschüttet, die bewirken, dass wir in eine tiefe Entspannung kommen, in der wir ganzheitlich regenerieren können.

Nahrung für die Seele

Aufmerksamkeit ist Nahrung für die Seele. Es muss jedoch eine Aufmerksamkeit sein, die sich auch wirklich auf unsere Seele bezieht. Wie anstrengend sind doch Meetings oder Gespräche, die sich nur im Kopf bewegen und bei denen es beim bloßen gedanklichen Meinungsaustausch bleibt? Das, was uns innerlich bewegt und wie wir uns tatsächlich fühlen, wird dabei übergangen. So ist es nicht verwunderlich, dass manche Menschen zwar eine Menge Kommunikation betreiben (müssen), aber sich trotzdem innerlich angestrengt und im Grunde einsam fühlen. Das ändert sich erst dort, wo eine Kommunikation stattfindet, die ihren Namen verdient – also, in der wir Teil einer Gemeinschaft werden und uns darin eingebunden fühlen. Ist das nicht ein wesentlicher Grund dafür, warum Menschen Gruppenangebote, in denen wahrhaftiger seelischer Austausch und echte Gemeinschaft gefördert werden, als heilsam erfahren?

Es braucht nicht viel

Eigentlich braucht es nicht viel, damit sich eine seelische Verbundenheit einstellt. Wir können beobachten, wie in Bewusstheitsgruppen, in denen Menschen zusammenkommen, die sich meist nicht einmal kennen, in kürzester Zeit eine tiefe Verbundenheit entsteht. Wenn wir genauer betrachten, wie das so schnell möglich ist, dann sehen wir, dass es hier in Übungen zwei wesentliche Zutaten gibt, die wir in alltäglichen Kontakten meist nicht nutzen.

Da gibt es zunächst einen klaren Zeitrahmen. Auf diese Weise bekommt jede Person einen expliziten Raum zugewiesen, in dem es nur um sie geht. Die Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen verdichtet sich dadurch und erzeugt ein Feld an Präsenz, das die Person, die sich zeigt, umgibt und nährt. Oberflächlich betrachtet, scheint die Aufmerksamkeit von Menschen keine eigene Substanz zu haben. Doch das ist ein Irrtum. Denken wir an das Kraftfeld, das entsteht, wenn viele Menschen einem Theaterstück oder einem Sportereignis beiwohnen. Künstlerinnen und Sportler können ein Lied davon singen, wie anders es ist, in einem Feld von Präsenz zu spielen oder ohne dieses Kraftfeld alleine im Übungsraum zu sein.

Der zweite zentrale Faktor, der verbindend wirkt und welcher in einer oberflächlichen Kommunikation meist missachtet wird, betrifft die Art der Mitteilung. Wenn sie Nähe erzeugen soll, muss sie etwas enthalten, das der Seelenebene entspringt - sprich etwas, das uns tiefer sichtbar macht. Wenn ich zum Beispiel jemandem erzähle, welchen Beruf ich ausübe, erzeugt dies typischerweise noch keine Resonanz beim Gegenüber. Wenn ich aber darüber spreche, was mich an meinem Beruf inspiriert oder anstrengt, dann zeige ich etwas von meiner Innenwelt und dies weckt die Empathie der zuhörenden Person. Immer wenn etwas Wahrhaftiges aus der Innenwelt gezeigt wird und das gegenwärtige Erleben dazu sichtbar wird, bewirkt das unmittelbar eine Resonanz in der Seele des Gegenübers. Es entsteht Nähe.

Worauf warten wir?

Könnten wir diese beiden Zutaten für seelische Verbundenheit zwischen Menschen nicht auch öfter in Alltagskontakten beherzigen? Nebenbei bemerkt: Diese Zutaten wirken auch in einem Gespräch, bei dem wir die andere Person nicht leibhaftig gegenüber haben, sondern nur auf dem Bildschirm sehen oder ihre Stimme im Handy hören.

Und noch etwas sollten wir bedenken: Diese beiden Zutaten für seelische Verbundenheit wirken auch, wenn wir uns selbst die Aufmerksamkeit schenken und uns darüber tiefer nach innen anbinden. Wenn wir regelmäßig für uns einen Raum mit einem klaren Zeitrahmen kreieren, in dem wir eine Meditationspraxis oder eine Seelenpraxis wie das Innere Erforschen durchführen, dann verdichten wir durch die begrenzte Zeit unsere Konzentrationskraft und schaffen für uns selbst ein Feld der Aufmerksamkeit. Und wenn wir dann in dieser Zeit nicht nur unseren kreisenden Gedanken zuhören, sondern sehr bewusst dem gegenwärtigen Erleben im Körper und in der Seele lauschen und ihm einen Ausdruck verleihen, entsteht eine Nähe und Intensität, die uns zutiefst nährt und nach innen hin verbindet. Worauf warten wir also?

ÜBUNG: Sich nach innen verbinden

  • Nimm dir bewusst Zeit für dich selbst und schaffe einen ungestörten Raum von 20 Minuten, in welchem du dich dir selbst mit ganzer Aufmerksamkeit zuwendest.
  • Dann reflektiere zunächst ein paar Minuten über folgende Fragen:
 Wieviel Nähe und Verbundenheit erfährst du zurzeit in deinen Beziehungen?
 Was vermisst du? Was nährt die Verbundenheit? 
Wie sehr bist du derzeit innerlich mit deiner Seele verbunden?
  • Welche Gefühle entstehen, wenn du darüber reflektierst? Gib ihnen Raum…
    Dann lass ein inneres Bild für das Erleben von tiefer Verbundenheit auftauchen und schaue es in Ruhe an.
  • Frage dich dann: Welches Element in diesem Bild drückt für mich die Verbundenheit am stärksten aus?
  • Wechsle jetzt bewusst die Perspektive und stell dir vor, dieses Element von innen her zu sein:
    Nimm dazu eine Gebärde ein oder mach dazu eine ganzkörperliche Bewegung.
    Welche Empfindungen und Gefühle tauchen jetzt auf?
    Lass dir Zeit dafür, ganz in diesen Körperausdruck und in diese Empfindungen einzutauchen.

Was ist die wesentliche Qualität, die sich jetzt dadurch in dir ausbreitet? Lass Worte dazu auftauchen.
Lass diese Worte mehrmals innerlich klingen und tauche ganz in den Klang dieser Worte ein…