Achtsames Leben - Die Mauern in unseren Köpfen
Zurzeit spitzt sich der Ost-West-Konflikt wieder zu. Plötzlich denken wir wieder in Blöcken - wie in Zeiten des kalten Krieges. Dreiunddreißig Jahre nach dem Mauerfall schaukelt sich die Dynamik zwischen Ost und West erneut gefährlich auf und niemand weiß derzeit, wo diese Eskalation hinführen wird.
Doch wo beginnt eigentlich der Konflikt? Wie entstehen Polarisierungen, Hass und letztlich gewaltvolle Konflikte? Wo werden die Mauern dieser Welt gebaut? Solange wir nicht die Mauern in unseren Köpfen überwinden, werden sie immer wieder zwischen Völkern errichtet werden.
Die Samen des Hasses in uns
Wenn wir uns fragen, ob wir Mauern und gewaltvolle Konflikte zwischen Menschen und Völkern für gutheißen, dann würden wahrscheinlich die meisten Menschen verneinen. Und doch sind wir mehr daran beteiligt, als uns üblicherweise bewusst ist. Denn Konflikte und Kriege sind keine Dynamiken, die irgendwo draußen in der Welt stattfinden und mit unserem Leben nichts zu tun haben. Nein, die Wurzeln dafür sind in uns – in unserem Geist – zu finden und wir tun gut daran, die Anfänge von Ausgrenzung und Hass in uns erkennen zu lernen. Erst dann haben wir die Möglichkeit, diese Samen des Hasses kraft unserer Bewusstheit nicht weiter zu nähren. Erst dann können wir selbst aus der unseligen Dynamik von Unverständnis und sich aufschaukelnder Gewalt aussteigen.
Von Zugehörigkeiten und Verallgemeinerungen
Wenn wir die Ursachen von Gewalt und Hass genauer studieren, können wir beobachten, dass Hass nicht erst beginnt, wenn wir uns verletzt, bedroht oder gekränkt fühlen und dies sich dann explosiv oder gewaltvoll entlädt. Nein, die Wurzeln des Hasses beginnen viel früher. Dort nämlich, wo wir uns mit Zugehörigkeiten identifizieren und in Verallgemeinerungen denken.
Wenn ich zum Beispiel sage, „Ich bin Deutscher“, dann ist das zunächst nicht mehr als eine Einordnung und sicherlich kein Problem. Ich kann diese Zuordnung ohne weiteres wechseln, wenn ich zum Beispiel in ein anderes Land ziehe. Aber häufig bleibt es eben nicht bei der schlichten Zuordnung, sondern es kommt gleichzeitig zu einer Identifizierung. „Deutsch sein“ wird Teil unserer Identität. Diese gibt uns einerseits Halt, muss aber andererseits auch verteidigt werden. Wie bei jeder Art von Identifikation entsteht eine geistige Fixierung, die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmt.
Es gibt keine Deutschen
Wie viele Zuordnungen gibt es in unserem Leben und wie stark bestimmen diese unsere Identität? Ob wir sagen: „Ich bin eine Frau oder ein Mann. Ich bin Christ*in oder ich bin Teil einer bestimmten Berufsgruppe.“, fast immer wird diese Zuschreibung zu einem festen Bestandteil unserer Identität. Das kann man schon daran erkennen, dass wir meist nicht sagen: „Ich habe den Körper eines Mannes oder einer Frau.“, sondern wir sagen: „Ich bin ein Mann oder ich bin eine Frau.“
Dabei ist die Zuschreibung zu einer Gruppierung wie der „Deutschen“ oder der „Christ*innen“ eine Verallgemeinerung und sagt, wie wir (eigentlich) wissen, nichts über uns als konkrete Person aus. Gibt es einen typischen Deutschen? Wissen wir, wenn jemand sagt, sie sei Christin, etwas darüber, was diese Person wirklich glaubt und wie sie ihr religiöses Leben gestaltet?
Es gibt keine Deutschen, es gibt keine Italiener*innen, es gibt keine Christen*innen, es gibt keine Moslems und keine Muslimas. Es gibt nur Menschen, die auf ihre eigene Art fühlen und leben. Genauso gibt es auch im aktuellen Krieg keine Ukrainer*innen und keine Russ*innen. Wenn wir diesen Krieg überwinden wollen, müssen wir zuallererst diese Verallgemeinerungen in unseren Köpfen beenden.
Auf den einzelnen Menschen schauen
Jedes Mal, wenn wir auf die Zugehörigkeit einer Person schauen und dadurch glauben, etwas über sie zu wissen, ist das bei näherer Betrachtung schlicht eine Illusion. Wenn wir Angst vor Überfremdung durch „Muslimische Menschen“ haben und Aussagen über „Moslems“ treffen, kennen wir den einzelnen Menschen und seine oder ihre Umstände? Wenn jemand weiß, dass wir Deutsche*r oder Christ*in sind, weiß er oder sie etwas über uns? Fühlen wir uns dann gesehen und erkannt?
Verallgemeinerungen und die Identifikation mit Zugehörigkeiten ist eine entscheidende Wurzel für Bewertungen, für Angst und Ausgrenzung und letztlich auch für Hass und Gewalt. Durch jede Verallgemeinerung und jede Identifikation entstehen Grenzen in unserem Kopf und falsche Zuschreibungen, die mit der Wirklichkeit der einzelnen Person meistens nicht übereinstimmen. Solange uns diese Grenzen in unserem Kopf bestimmen, kann nichts anderes in die Welt kommen als Missverständnisse und Trennung.
Der alltägliche Hass
Dabei sind Verallgemeinerungen viel alltäglicher als man im ersten Moment denkt. Und sie sind gesellschaftlich total akzeptiert. Wie oft haben wir schon Menschen sprechen hören, wie Frauen im Unterschied zu Männern seien. Stimmen diese Stereotypen wirklich? Oder gibt es nicht auch viele Gegenbeispiele? Wie oft haben wir selbst vielleicht schon gedacht, die „Moslems“ oder die „Zenschüler*innen“ oder die „Zeugen Jehovas“ sind …? Erst im Verzicht auf Zuschreibungen und Verallgemeinerungen, haben wir den Blick frei, den einzelnen Menschen zu sehen und ihm oder ihr zu begegnen. Nur dadurch entsteht eine Offenheit, in der wirkliche Bezugnahme und Verständigung geschehen kann und in der wir uns als Menschen nahekommen können.
Lasst uns wachsam sein! Lasst uns die Wurzeln von Ausgrenzung, Gewalt und Hass in unserem Geist bemerken und lasst uns nicht akzeptieren, wenn andere Menschen in Generalhaftung genommen und wegen ihrer Zugehörigkeit bewertet oder verfolgt werden.
ÜBUNG: Verallgemeinerungen durch Offenheit ersetzen
Folgender Fragenzyklus wird dreimal mit unterschiedlichen Inhalten durchgeführt:
- Lass eine typische Verallgemeinerung über andere auftauchen, die du verwendest: Welche Zuschreibungen und welche Bewertungen beinhaltet diese Verallgemeinerung?
- Dann frage dich: Sind diese Aussagen wirklich wahr? Kannst du mit Sicherheit wissen, dass sie stimmen? Kennst du im Einzelnen diese Menschen, die du bewertest?
- Wie schaust du auf diese Menschen, wenn du die Verallgemeinerung als bloßes Gedankengebilde entlarvst und zur Seite legst? Wie könntest du dich auf diese Menschen beziehen und ihnen begegnen, wenn du frei von Verallgemeinerungen wärst? Fühle, was sich dabei innerlich ausbreitet?
Nachdem du dreimal den Fragenzyklus durchgeführt hast, stelle dir am Schluss folgende Frage:
- Was verändert sich in dir, wenn du Verallgemeinerungen als Gedankenblasen erkennst und beiseitelegst? Was breitet sich innerlich dabei aus – in deinem Körper und in deiner Seele? Wie gehst du dann durch die Welt und wie schaust du dabei auf Menschen?