Achtsames Leben - Der Sommer war groß

Wer kennt sie nicht, die berühmten Zeilen aus dem Herbstgedicht von Rainer Maria Rilke: „Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los…“ Der Herbst ist gekommen, die Zeit der Ernte und der Dankbarkeit.

Dankbarkeit bringt uns die Fülle des Lebens ins Bewusstsein. Doch bei näherer Betrachtung hat sie eine viel tiefere Bedeutung, als wir ihr üblicherweise zukommen lassen. Dankbarkeit ist nicht nur ein Gefühl, das momenthaft auftaucht, wenn sich etwas erfüllt. Sie ist vielmehr eine grundlegende spirituelle Lebenshaltung, die uns selbst und unser Umfeld verändern kann.

 

Wie sich unser Blick verengt

Wie leicht kann sich unser Blick auf das Schwierige und Negative verengen? Corona, Krieg, Hunger, steigende Lebenshaltungs- und Energiekosten, Klimakrise und dazu die individuellen Schwierigkeiten und Herausforderungen im privaten und beruflichen Umfeld, die es natürlich immer auf die eine oder andere Weise gibt. Wie schnell können wir da am Leben und am Menschen verzweifeln?

Wenn wir auf die Schwierigkeiten und Krisen des Lebens schauen, verengt sich unser Blick auf das Negative. Dabei übersehen wir, dass in allen schwierigen Situationen auch immer Unterstützendes gegenwärtig ist. Wieviel Solidarität und wieviel Kreativität wird doch in kleinen großen Krisen freigesetzt? Und wie schnell wird das ausgeblendet?

 

Ein schützender Mantel

Aus diesem Grund ist die Haltung der Dankbarkeit ein Schutz vor Negativität. So wie ein Mantel uns im Winter warmhält und vor Kälte bewahrt, so behütet uns die Dankbarkeit davor, den Blick auf das Destruktive zu verengen und dabei zu resignieren, zu verbittern oder zu verhärten.

Wir alle erleben immer wieder schwierige Momente. Wir alle erfahren Schicksalsschläge. Und doch lässt sich beobachten, dass es Menschen gibt, die dadurch in die Negativität und in Ängste abgleiten, dagegen andere sogar gestärkt daraus hervorgehen. Es ist also nicht nur die Schwere einer Lebenssituation oder die Heftigkeit eines Verlustes dafür entscheidend, wie wir eine herausfordernde Situation verarbeiten und welches grundlegende Lebensgefühl daraus entsteht. Mindestens genauso bedeutsam ist, mit welcher inneren Haltung wir diesen Situationen begegnen. Wenn sich unser Blick auf das Schwierige und Schmerzhafte verengt, werden wir verzweifeln und verbittern. Wenn wir das unterstützende und verbindende Potential in diesen Situationen sehen können, werden wir diese ganz anders verarbeiten können. Vielleicht gehen wir dann sogar gereift und gestärkt daraus hervor.

Ich danke der unsichtbaren Hilfe, die schon unterwegs ist.

Gebet vom Stamm der Hopi

 

Dankbarkeit ist nicht naiv

Natürlich geht es bei der Haltung der Dankbarkeit nicht darum, das Negative und Schmerzhafte des Lebens auszublenden. Es bedeutet auch nicht, naiv an das Gute zu glauben. Nein, es ist nicht weise und keineswegs heilsam, schmerzhafte Wirklichkeit vermeiden zu wollen. Natürlich gibt es Leiden und offensichtlich gibt es auch destruktives Verhalten, das wir Menschen uns selbst und der Natur antun. All das gibt es und wir tun gut daran, dies anzuerkennen und dem Schwierigen unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Aber das Schwierige im Leben braucht nicht nur unsere Aufmerksamkeit, sondern vor allen Dingen unsere liebende Aufmerksamkeit – also eine Aufmerksamkeit, die sich nicht auf das Destruktive und Negative verengt!

Das ist die Praxis der Dankbarkeit. Eine Grundhaltung, die sich nicht durch das Negative hypnotisieren lässt, sondern auf das gute, heilsame und verbindende Potential in allen Situationen schaut.

 

Dankbarkeit als Praxis

Wenn uns das gelingt und wir aus der Dankbarkeit heraus leben, dann werden wir nicht verhärten. Und – was vielleicht genauso wichtig ist – wir leben dann innerlich nicht in einer Welt des Mangels und der Bedürftigkeit, sondern sind uns der Fülle des Lebens bewusst. Dabei verhalten wir uns nicht wie ein bedürftiger Schwamm, der alles aufsaugt, sondern wie eine Quelle, die sich verströmt – unser Herz fließt über. Wir schenken dann Freude, strahlen Liebe und Sanftmut aus und verbreiten eine Atmosphäre von Friedlichkeit. Das ist die unmittelbarste Wirkung, wenn wir aus der Dankbarkeit heraus leben: Unser SEIN selbst wirkt in unsere Beziehungen hinein.

Aber nicht nur das. Wir verschenken dann auch das, was wir zu geben haben: unsere Potentiale. Es entsteht eine sehr natürliche Großzügigkeit, die sich durch unser ganzes Leben zieht. Vielleicht spenden wir Geld, vielleicht schenken wir einfach nur einem Menschen, der gerade in der Not ist, unsere Zeit und unsere Zuwendung. Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu verschenken. In jedem Fall führt uns Dankbarkeit über eine selbstbezogene, egoistische und bedürftige Lebensweise hinaus. Daher ist Dankbarkeit nicht nur eine Haltung, die uns den Reichtum des Lebens eröffnet, sondern auch eine spirituelle Praxis, die unsere Selbstbezogenheit transformiert.

Das größte Geschenk, das wir geben können, ist Dankbarkeit.
Wenn wir Geschenke geben, geben wir etwas, das wir entbehren können.
Wenn wir Dankbarkeit geben, schenken wir uns selbst.

David Steindl Rast

 

ÜBUNG: Die Praxis der Dankbarkeit

  • Lass etwas auftauchen, das dir am Herzen liegt und für dich herausfordernd oder schwierig ist: Warum liegt dir diese Sache am Herzen und was ist daran für dich schwierig?

  • Spür, was innerlich geschieht, wenn du auf das Problematische oder Unlösbare dieser Situation schaust. Nimm eine Gebärde dazu ein. In welche innere Welt kommst du hier?

  • Dann steig bewusst aus der Verklebung mit dem Thema heraus und strecke und dehne dich.

  • Erinnere dich jetzt an die Grundhaltung der Dankbarkeit: Dankbarkeit bedeutet, zu spüren, dass es in allen Situationen auch Heilsames, Verbindendes und Unterstützendes gibt. Erinnere dich daran, wie viel Unterstützung und Hilfe du bereits in deinem Leben bekommen hast. Hilfe ist immer da und das Leben ist immer bei dir: Jetzt zum Beispiel: Fühle wie dir der Atem und damit auch Lebenskraft zufließt und atme mehrmals tief ein und aus…

  • Lass auch hier wieder eine ganzkörperliche Gebärde entstehen und erforsche in welche innere Welt du dadurch kommst…? Welches Lebensgefühl entsteht? Welche Bilder tauchen dazu auf?

  • Schau jetzt in dieser Haltung eines offenen Herzens auf die ursprüngliche Situation: Wie schaust du jetzt auf diese Situation? Wo siehst du in dieser Situation Verbindendes oder Unterstützendes oder heilsame Potentiale?

  • Wie kannst du das Verbindende oder Heilsame aktiv nähren?