Achtsames Leben - Alle Wege führen nach Rom

Was gibt es doch für eine Fülle an Methoden, die uns alle darin unterstützen wollen, die innere Verbindung zu stärken und ein bewusstes und erfülltes Leben zu führen! Yoga und Meditation, Körperarbeit und Tanztherapie, Aufstellungen und vielfältige Begegnungs- und Kontaktübungen. Wie leicht kann man da den Überblick verlieren und den Eindruck eines unübersichtlichen Dschungels bekommen.

Dabei wird jedoch häufig übersehen, dass all diese verschiedenen Wege auf etwas sehr Grundlegendem und Schlichtem aufgebaut sind. Sie alle basieren auf der Kraft der Aufmerksamkeit. So wie alle Straßen im römischen Reich ihren Ursprung in Rom hatten, so wurzeln alle therapeutischen und spirituellen Formen in der Existenz des Bewusstseins und seinem Potential zu Aufmerksamkeit.

 

Aufmerksamkeit als Kristallisationspunkt der Seele

Ob wir eine Form der Körperarbeit praktizieren oder die Praxis der Meditation, immer bildet die Aufmerksamkeit selbst – das uns innewohnende Potenzial zu Bewusstheit – die Basis für diese vielfältigen Methoden. In spirituellen Kreisen wird es typischerweise die Fähigkeit zur Achtsamkeit genannt. Sind wir aufmerksam, können wir uns bewusstwerden, was gerade äußerlich in der Gegenwart, zum Beispiel in der Kommunikation mit einem anderen Menschen, vor sich geht. Wir können jedoch auch innere Gedankengänge und Egomuster beobachten und uns dieser oft einschränkenden Muster bewusst werden. Und schließlich ist genau diese Fähigkeit zur Aufmerksamkeit das Tor, um tief in den Raum des Gewahrseins einzutauchen.

Aufmerksamkeit ist gleichsam der Kristallisationspunkt der Seele. Worauf auch immer sich unsere Aufmerksamkeit richtet, dort verdichtet sich das Erleben und kreiert sich eine subjektive, erfahrbare Wirklichkeit. Schauen wir hypnotisch auf unsere Probleme, werden diese sofort unsere Gefühle einfärben und unsere innere Welt bestimmen. Richten wir dagegen den Blick auf die vielen kleinen Geschenke der Gegenwart, können wir den Reichtum empfinden, der uns immer umgibt. Im Spiegel des Bewusstseins erscheinen die innere und äußere Welt und der Fokus unserer Aufmerksamkeit bestimmt, wie diese beschaffen ist.

Himmel und Hölle sind keine Orte, an die man nach dem Tode geht. Sie sind hier und jetzt! Gott und der Teufel sind in unseren Gedanken und die Tore zu Himmel und Hölle stehen für dich jederzeit offen.

Hakuin

 

Wodurch Beziehungen heilsam werden

Aufmerksamkeit ist aber nicht nur innerlich die entscheidende Kraft, sondern auch äußerlich in unserem alltäglichen Leben. Betrachten wir nur einmal unsere Beziehungen. Wie berührend und heilsam ist es, wenn Menschen sich gegenseitig liebevolle Aufmerksamkeit zukommen lassen? Und wie leicht kann es aber auch geschehen, dass wir andere übersehen und dadurch verletzen? Wenn wir Beziehungsdynamiken genauer betrachten, steht immer die Qualität der Aufmerksamkeit im Zentrum des Geschehens. Sind wir wirklich innerlich anwesend im Kontakt? Nehmen wir das Gegenüber tiefer wahr? Sind wir interessiert an seiner oder ihrer Welt? Sind wir bereit, uns einzufühlen - uns vom Gegenüber und seiner/ihrer Innenwelt berühren zu lassen?

Ich behaupte nicht, dass es dann keine Konflikte mehr gibt. Auch wird es weiterhin unerfüllte Bedürfnisse geben, auch dort, wo wir echte Aufmerksamkeit schenken. Aber mit Sicherheit entsteht mit der Qualität unserer Aufmerksamkeit ein konstruktives, tragendes Feld in unseren Beziehungen, das sogar in Konfliktsituationen heilsam wirkt.

Einem Menschen zuzuhören ist die einfachste und wirkungsvollste Art, sich mit ihm zu verbinden. Und unsere Aufmerksamkeit das größte Geschenk, das wir ihm machen können.

Rachel Naomi Remen

 

Eine hintergründige Heilkraft

Dabei muss man sich klarmachen, dass Aufmerksamkeit eine zutiefst hintergründige Kraft ist. Ihre Bedeutung wird oft übersehen oder verkannt. Man kann Präsenz nicht sehen und nicht anfassen wie zum Beispiel die vordergründige Zuwendung einer herzlichen Umarmung. Aus diesem Grund merken wir nicht, dass Aufmerksamkeit eigentlich die zentrale Kraft ist, die unser Zuhören oder unsere Umarmungen erst heilsam machen.

In vielen Fällen ist unsere Präsenz der entscheidende Punkt dafür, dass es überhaupt zu einem echten Beziehungsvorgang, wie zum Beispiel einer Zuwendung oder eine Umarmung, kommt. Ohne Aufmerksamkeit nehmen wir das Gegenüber gar nicht wahr und würden uns entsprechend nicht zuwenden. Und umgekehrt, wenn unsere Zuwendung oder unsere Handlung ohne Aufmerksamkeit – also ohne unsere Präsenz – stattfindet, hat es ebenso keine heilsame Wirkung. Wie fühlt es sich an, wenn uns jemand zuhört, aber dabei innerlich abwesend ist? Welche Gefühle löst es aus, wenn uns jemand einfach nur mechanisch massiert, ohne dabei anwesend zu sein? Oder noch schlimmer, wenn uns jemand aus Höflichkeit umarmt oder küsst?

 

Die Qualität ist entscheidend

Übrigens ist die Kraft der Aufmerksamkeit nicht nur der Schlüssel für gelingende Beziehungen. Wenn wir zum Beispiel bei unserer Arbeit aufmerksam sind, werden wir die Dinge mit großer Sorgfalt erledigen und daraus Erfüllung ziehen, egal was wir gerade zu tun haben. Genauso wird uns die Achtsamkeit für unsere Seelenzustände dabei helfen, dass wir mit uns selbst anders umgehen und uns nicht immer übergehen. Gehen wir mit Aufmerksamkeit durch die Welt, werden wir den Müll auf der Straße aufheben. Unsere Umwelt und auch Tiere werden uns nicht mehr egal sein können. Doch nicht nur das: Mit offenen Augen können wir auch die Schönheit und die Kostbarkeit des Lebens erkennen und uns davon berühren lassen.

Aufmerksamkeit ist die Grundlage. Es ist so einfach, das zu praktizieren. Es kostet nichts. Wir alle haben diese Fähigkeit in uns. Wir müssen uns nur darauf besinnen. Dabei kommt es ganz entscheidend auf die Qualität unserer Aufmerksamkeit an. Denn nicht die Situation selbst, sondern die Qualität unserer Aufmerksamkeit entscheidet, wie wir eine Situation oder einen menschlichen Kontakt erfahren und wie wir dann handeln. So kann diese hintergründige Kraft unser Leben und das unserer Mitmenschen verwandeln – nicht nur in der Meditation, sondern in allen Momenten.

 

ÜBUNG: Die hintergründige Kraft der Aufmerksamkeit

  • Schaffe Raum in dir, entspann dich und sammle dich.

  • Dann besinne dich auf die Kraft der Aufmerksamkeit. Lass dabei den Fokus der Aufmerksamkeit ganz ungerichtet und weit sein. Achte auf nichts Bestimmtes und vergegenwärtige dir das Aufmerksamsein selbst. Diese Kraft ist in jeder Erfahrung im Hintergrund wirksam:
    Wie erfährst du Aufmerksamkeit gerade jetzt? Lass dir Zeit, diese Kraft ganz unmittelbar zu spüren.

  • Visualisiere diese Kraft jetzt auf eine fantasievolle Weise: Lass dich überraschen, welches Bild gerade dazu auftaucht und betrachte es genauer. Welche Atmosphäre herrscht in dem Bild? Welches Element verkörpert hier die Kraft der Aufmerksamkeit am stärksten?

  • Wechsle jetzt die Perspektive und schlüpfe in das Element, das die Aufmerksamkeit verkörpert, hinein. Wie erfährst du dieses Element von innen her? Was breitet sich hier im Erleben – im Körper und in der Seele – aus?

  • Lass dazu einen Gestaltausdruck im Körper auftauchen und nimm ihn ein. Erkunde, welche Empfindungen und Gefühle auftauchen und welche Klänge oder Worte dazu auftauchen…

  • Spüre jetzt, was das Stärkste ist, das sich hier zeigt und tauche in diese Qualität ein: Wie erfährst du es, wenn sich diese Qualität in deiner Ganzheit ausbreitet?

 

Alltagstransfer

  • Lass eine Alltagssituation auftauchen, die dir am Herzen liegt und reflektiere darüber, warum sie dir am Herzen liegt.
  • Erforsche jetzt, was es bedeutet, diese Situation mit einer hohen Qualität von Aufmerksamkeit zu leben.